Je länger ich mich mit Fahrrädern beschäftige, desto radikaler wird meine Einstellung gegenüber anderen Menschen, insbesondere einerseits denen, die Fahrradfahrende beleidigen, gefährden, verleumden, lächerlich machen und andererseits denen, die Fahrrad-Leasing und Pedelec-Konsum als „postitiv“ bezeichnen im Rahmen der Verkehrswende und Nachhaltigkeit.
Wer sich etwas mit Leasing beschäftigt, sollte klar sein, dass es hier eigentlich nur den Vorteile einer geringen Kapitalbindung zum Leasingbeginn gibt (Liquidität schonen), aber die Gesamtkosten am Ende höher sind. Zwar kann man Leasingkosten sofort abschreiben im Gegensatz zu steuerlichen Abschreibetabellen (AfA), die für ein Fahrrad jeder Art absurde 7 Jahre vorsehen. Doch der Leasingtrend trifft zu 99% auf Angestellte zu, die sowieso sowohl Anschaffungskosten wie auch Leasingkosten nicht absetzen können. Zwar gibt es einen steuerlichen Rabatt beim Dienstrad-Leasing, doch sobald man das Rad übernimmt, gefährdet man diesen oder muss wieder Liquidität bzw. Kapital in die Hand nehmen.
Was dann? Ein sofortiger Verkauf ist beim aktuellen Markt ein Verlustgeschäft. Viele werden ihre Pedelecs wieder zurückgeben und sich neue leasen. Somit haben die Leasinggeber und ihre beauftragten Verwerter viel zu tun für diese Räder Abnehmer zu finden. Auch hier werden wir einen Einbruch sehen. Klappt die Verwertung nur noch unter hohen Abschlägen, wird das ganze Dienstradmodell gefährdet bzw. die Leasingraten steigen stark an.
So oder so werden große Mengen an funktionierenden Rädern auf den Markt geworfen oder verschrottet. Eine massive Ressourcenverschwendung die wir schon aus dem KFZ-Bereich kennen.
Weiterhin sind Pedelecs teuer und proprietärer als normale Fahrräder. Ersatzteile für den Motor gibt es z.B. nur vom Hersteller – solange der Lust hat – und oft nicht direkt an Privatkunden. Ökonomische Totalverluste sind garantiert, wenn der Motor nach 5-6 Jahren kaputt gehen sollte: Es passt kein anderer Motor und selbst ausbauen und „motorlos“ kann man diese Pedelecs nicht betreiben. Gefahr von Vandalismus und das Laden der Akkus machen auch den Betrieb komplizierter. Das hohe Gewicht erlaubt nicht, das Rad über eine Treppe in einen Keller oder die Wohnung zu bringen und dort sicher abzustellen.
Ein Motor mag in sehr hügeligen Gegenden von Vorteil sein, bei Lastenrädern sehr hilfreich oder bei langen Pendelfahrten nützlich. Abseits davon z.B. in einer flachen Stadt wie München eine komplette Verschwendung.
Second Life
Ich schaue seit einigen Wochen auf Kleinanzeigen, was so im 50-100 Euro Segment angeboten wird. Neben offensichtlichem Schrott findet man ab und zu auch Schnäppchen. Stahlräder von Marken wie Sursee, Villiger, Cilo aus der Schweiz. Die Unternehmen sind längst abgewickelt, aber im Gegensatz zum Schrott, den die deutsche Fahrradindustrie in den 70/80/90er auf den Markt geworfen haben, wurden hier hochwertige Stahl-Rohrsätze von beispielsweise Columbus, Reynolds, Tange verwendet. Abgesehen vom veralteten 1″ Steuersatz kann man an den Rädern auch fast alles neue verbauen. Den Hinterbau kann man kalt auseinanderbiegen auf z.B. 130 oder 135mm und damit (fast) alles fahren, was heute an Naben- und Kettenschaltungen angeboten wird.
Das Fehlen von Scheibenbremsen halte ich im Übrigen für kein Problem. Ich kann mein 50kg Lastenrad mit Trommelbremsen (bzw Rollenbremsen) auch stark abbremsen und mit jeder Felgenbremse die Laufräder blockieren. Weil vielleicht im Regen die Bremsleistung schlechter ist, will ich doch nicht ein 10x komplexeres, teurers und fehleranfälliges System am Rad.
In Trudering wurde für 40 Euro ein altes Fahrrad angeboten, offensichtlich markenlos. Auf den Fotos erkannte ich Aufkleber, die auf einen Columbus-Rohrsatz hindeuten und habe das Rad letztlich gekauft wie gesehen. Es entstammt einer Erbschaft und stand die letzten Jahre im Schuppen.
Verbaut war vorne noch ein Originalreifen von Schwalbe aus 1993. Hinten etwas neuer. Ein Dynamo und Licht waren nachträglich verbaut, passten aber nicht zum Rad. Der Lack war an vielen Stellen beschädigt, Dellen konnte ich bis jetzt aber nicht finden.
Neben den Columbus-Aufklebern war noch ein Aufkleber von „Fahrrad Rabe“ aus München, immerhin schon mit fünfstelliger Postleitzahl und ein „Hand Made“ Aufkleber auf dem Oberrohr, der mir nichts sagte – dem Verkäufer aber offenbar auch nicht.
Da ich nicht auf einem mir unbekannten „Schrott“-Rad durch die Stadt fahren wollte, bin ich mit der S-Bahn zurück zur Donnersbergerbrücke und erst von dort geradelt. Es lief flott, mal wieder alle auf dem Radwerg überholt. Zuhause angefangen das Rad zu zerlegen: Eine fragwürdige Airwings Federsattelstütze aus den frühen 90ern, eine Lichtanlage mit Glühbirnen, der besagte Dynamo, ein billig-Seitenständer.
Den Antrieb habe ich grob gereinigt und die Kette ersetzt (10 Euro).
Etwas Probleme hatte ich mit der Sattelstütze. Offensichtlich war es eine 26mm Sattelstütze mit einer Adapter-Hülse. Letztlich maß ich 27,2mm – ein Standardmaß für viele Räder. Doch eine 40cm lange 27,2mm Sattelstütze ging nur bis ca 15cm rein und klemmte danach. Ich gehe davon aus, dass das Rad ursprünglich ein 27,0mm Maß vorsah und von Rabe oder dem Vorbesitzer auf 27,2 aufgefräst wurde. Kurz überlege ich, weiter zu fräsen oder eine Sattelstütze mit einem Rohrabschneider zu kürzen. Beides konnte ich umgehen mit einer nur 35mm langen Sattelstütze die auch etwas am unteren Ende der 27,2mm Durchmesser ist (warum auch immer, der Hersteller Procraft aka Merida-Centurion wird es schon wissen; 17 Euro).
Specialized hatte gerade einen Sale und so konnte ich 2 neue Gravelreifen in der Größe 38-622 für 36 Euro mit Versand kaufen und verbauen.
Richtig kaputt waren leider die Schaltgriffe, eigentlich Gripshift-Drehgriffe, deren Gummi sich aber verlüssigt hatte, was irreperabel ist. Für weitere 20 Euro konnte ich ein Set neuer Shimano Tourney Drehgriffe kaufen, die sofort und angenehm gut funktionieren. Die uralte 3×7 Gangschaltung mag eine geringe Entfaltung und alle Nachteile einer Dreifachschaltung haben, aber sie ist sehr gutmütig was Toleranzen angeht.
Aus meinem Fundus habe ich noch einen Sattel, einen anderen Lenker und ein paar Lenkergriffe montiert und eine Probefahrt durchgeführt.
Obwohl die ursprüngliche Kette komplett verschlissen war, sind Kettenblätter und die Kassette noch gut fahrbar. Nichts rutscht durch, alle Gänge funktionieren. Mit 34,9 km/h Spitze durch den Olympiapark und mit ca 26km/h Schnitt vom Petuelring zur Clemensstraße.
Die Cantileverbremsen sind wunderbar einstellbar und liefern eine Haptik, die ich bei 3 Rädern mit Magura HS (hydraulische Felgenbremsen) so nie hinbekommen habe. Es ist komplett verrückt, was 35 Jahre alte Technik schon konnte und was man heute neu bekommt. Das Rad wäre auf dem Schrott gelandet, da bin ich mir sicher. Dabei ist es eine Stadtrakete.
Aber was genau ist das nun für ein Fahrrad? Die Reifenfreiheit ist enorm, ich schätze man bekäme wohl auch 50mm breite Reifen mit anderen Schutzblechen rein. Für ein Mountainbike sind die Rohrquerschnitte zu gering. Es wird wohl ein ATB/Hybrid/“Trekking“-Rad sein, die in den 90ern populär waren.
Und warum steht da „Hand Made“ drauf?
Zwei Wochen dachte ich, dass es ein Scherz sei, vielleicht einen Lackschaden überdecken soll. Dann habe ich gesucht und gefunden. Der Shop „MTB-Kult“ bietet einen Rahmensatz in NOS an (new old stock, neu aber alt) mit dem gleichen Schriftzug und von der Marke Razesa.
Mir war der Name unbekannt und so recherchierte ich. Ein sehr populärer Rahmen- und Fahrradhersteller der 70/80er Jahre aus dem Baskenland, der dort als erster Mountainbikes verkaufte.
Miguel Indurain gewann 1991 auf einem Rennrad von Razesa die Tour de France. Leider gibt es keine Website mehr und es ist unklar, was heute noch produziert wird. Jedenfalls ist noch mindestens eine Person unter „Razesa Alsasua“ aktiv und veröffentlich auf Instagram Fotos von fertiggestellten Rädern. Ob hier jemand die Firma übernommen hat, ehemalige Angestelte oder Besitzer in kleiner Form weitermachen (wie z.B. bei Schauff in Deutschland auch), ist mir nicht klar. Jedenfalls wurde mir nach Zusendung der Fotos und Rahmennummer bestätigt, dass es ein Razesa-Rad mit Columbus Cromor-Rohrsatz ist. Und damals „hand made“ gelötet wurde.
Nein, es ist kein Schnäppchen. Ich muss Zeit und Teile investieren, die vermutlich auf mehrere hundert Euro kommen. Beim Discounter bekommt man für 500 Euro schon irgend ein low-end Fahrrad mit Alu-Rahmen in neu. Garantiert ein Rad, dass kein Spass macht und nach wenigen Jahren verkauft oder verschrottet wird. Was für eine Verschwendung.
Auf den Straßen und Radwegen sehe ich so viele schlecht gepflegte Räder mit Defekten, die allesamt in 10 Minuten zu beheben wären. Anleitungen wie es geht, findet man gratis bei YouTube in Deutscher Sprache, Ersatzteile im Alltags-Segment sind spottbillig. ALLES was ich über Fahrräder gelernt habe, habe ich von YouTube. Niemand hat mir Werkzeug geliehen oder mir Anleitung gegeben. Ich war, abgesehen vom initialen Check des Lastenrades, auch mit über 25.000 gefahrenen Kilometern seit 2020 kein einziges Mal wegen eines Defekts bei einem Radladen, ausser um Ersatzteile zu kaufen. Das hört sich jetzt arrogant oder besonders an, aber es ist genau das Gegenteil. Es ist kein Hexenwerk. Es ist simpelste Technik. Es ist manchmal trial und error und man bekommt ggf. schmutzige Hände.
Es erinnert mich an die 1990er und frühen 00er Jahre im IT-Umfeld. Medien und Leute jammerten, „es muss einfacher werden“ und es wurde einfacher. Aber am Ende sind 99.9% der Leute Konsumschweine, die kaufen und konsumieren, aber nichts, absolut nichts selbst können. Weder ein kleines Programm schreiben, eine Website bauen, ein Computersystem verwalten oder ein simples Fahrrad in Schuss zu halten oder korrekt nutzen.
Eintrittsbarrieren sind nicht mehr vorhanden. Alles ist in einfachster Sprache verfügbar, Video-Anleitungen in super Qualität. Es gibt Werkzeug in billig und in teuer, beides erfüllt den Zweck im kleinen Rahmen. Trotzdem machen es die Leute nicht. „Es muss einfacher werden“ ist der kollektive Selbstbetrug, eine Ausrede für Konsum, Verschwendung und Faulheit um nicht selbst etwas zu machen, was ausserhalb der Komfortzone liegt.
Statt Schalten und Trittfrequenz zu erlernen, muss also jetzt unbedingt ein Pedelec her. 25km/h, am besten aber noch illegal frisiert. Und dann kommt so ein stark übergewichtiger Typ auf einem mindestens 15 Jahre alten Stahlrad an (egal welches, keines war teurer als 400 EUR) und überholt Dich. Und Du kannst nichts machen. Du kannst die nächste Ampel über rot fahren. Und ich fahre erst bei grün und überhole Dich trotzdem wieder bis zur nächsten Ampel. Wir können das 3-4x mal so spielen und Du kannst dann bei mir einen Motor suchen oder eine Ausrede, die Dein (geleastes) 6500 Euro E-Fully Pedelec rechtfertigt.
Wie können wir das ändern? Gibt es überhaupt eine Chance?
Aus dem Umfeld von Repair-Cafes höre ich, dass Menschen ihre defekten Geräte bringen, aber nicht selbst reparieren oder wenigstens wissen wollen, was kaputt ist. „Können Sie bitte gratis für mich reparieren?“. Mit der Einstellung sind wir verloren. Generell.
Wir brauchen einen Mindset, der Menschen dazu bewegt, sich intensiver mit Dingen des Alltags zu beschäftigen. Eine Neugier, die wissen will, wie Dinge funktionieren und die Dinge beherrschen möchte.
Menschen, die wieder lernen möchte, statt zu verdrängen.