Meine Motivation:
Ich habe das Radfahren für mich entdeckt und dafür monatelang das MVG-Rad-Sharing-System genutzt in einer Art Intervalltraining um Kosten zu sparen. Als die Gelegenheit passend war, kaufte ich mir mein eigenes Fahrrad um längere Touren „ohne Uhr“ unternehmen zu können und ein qualitativ besseres/gepflegteres Fahrrad zu fahren.
Doch stellt sich mir jetzt wieder öfter die Frage, wie ich auf Kilometer kommen kann. Meine Stadtrunden sind meist 20-25km lang (ohne Pause), dann meldet sich meist mein Gesäß und ich belasse es dann dabei. Aber ich glaube es wäre mehr drin. Und um wieder eine Art Intervalltraining zu machen, böte sich eigentlich die Tätigkeit als Fahrradkurier an. Dazu noch Geld fürs Training – das wäre doch super?!
Neben traditionellen, eher kleineren Kurierunternehmen wie Rapid oder Transpedal dürften die allermeisten Radkuriere in München bei Lieferando, Burgerme und bei wenigen Restaurants direkt arbeiten. Gastronomen beklagen zwar schon länger die absolute Marktmacht, die Lieferando in Deutschland durch Zukäufe erlangt hat, aber so ist das eben, wenn man 25 Jahre das Web/E-Commerce verschlafen hat und nun auch die Last-Mile-Delivery verliert. Sie werden geschlachtet.
Nun startet jedoch das finnische Startup „Wolt“ in München mit einem mit Lieferando vergleichbaren Angebot. Ich habe mich spasseshalber im Dezember sowohl bei Wolt als auch bei Lieferando für einen Minijob beworben:
Gedächtnisprotokolle der „Onboarding“-Videokonferenzen im Januar 2021 (jeweils mit circa 50 anderen Interessierten) und einem persönlichen Gespräch bei Wolt in einem Coworking-Space, sind die Grundlage der folgenden Angaben.
Beide Anbieter bieten nur Anstellungsverträge an, vom Minijob bis hin zu Teilzeit oder Vollzeit. Eine selbständige/unternehmerische Tätigkeit ist nicht möglich.
Es werden fixe Stundensätze am Rande des Mindestlohnes bezahlt, die unterschiedlich stark durch Boni aufgewertet werden können.
Tarif-Grundlagen:
Anbieter | Stundenlohn | Wochenstunden für Minijob | Zeiteinteilung | Fahrradstellung | Kilometergeld Fahrrad | Kilometergeld Auto | Kilometergeld Scooter/Roller |
Lieferando | 11,00 € | Mindestens 5 Stunden | „Wunsch“/Widerspruch-System | Nein (wegen Covid) | – | 0,30€/km | 0,20€/km |
Wolt | 10,50 € | Mindestens 8 Stunden | frei, aber mindestens 3×4 Stunden an Sonntagen/Monat | Nein | 0,60€/km* | 0,30€/km* | ? |
Bonus-Systeme:
Die Bonusmöglichkeiten unterscheiden sich signifikant:
Lieferando zahlt für das erreichen monatlicher Meilensteine:
0-25 Zustellungen: 0€
26-100 Zustellungen: 0,25€ pro Zustellung
101-200 Zustellungen: 1,00€ pro Zustellung
201+ Zustellungen: 2,00€ pro Zustellung
Weiterhin gibt es noch eine Prämie für „Kuriere werben Kuriere“.
Wolt arbeitet hingegen mit einem ganz anderen Ansatz: Der Stundenlohn dient als Grundlage, d.h. Prämien und(!) Kilometergeld verfallen, sofern nicht der stündliche Mindestlohnsatz erreicht werden. Ansonsten gibt es für jede Lieferung per Rad 4€ und per Auto 4,75€ „Task Fee“.
Weiterhin gibt es noch einmalige Boni für eine bestimmte Anzahl von Lieferungen, dies sei aber vorübergehend und könne sich jederzeit ändern oder eingestellt werden. Aktuell gibt es:
50 Lieferungen: einmalig 50€
125 Lieferungen: einmalig 50€
250 Lieferungen: einmalig 50€
Hierzu muss man wissen, dass ein Algorithmus die Lieferungen auswählt und man diese zu Erfüllen hat. Auf Entfernungen oder andere Bedürfnisse kann kein Einfluss genommen werden. Ob schnellere Fahrer wirklich dann auch mehr Bestellungen zugewiesen bekommen, ist unklar.
Einschätzung
Die in UK oder USA möglichen Stundenverdienste sind in Deutschland als Arbeitnehmer nicht realisierbar. Die Pflicht, eine relativ umfangreiche Stundenzahl pro Woche anzunehmen und das Fehlen eines Multiplikators für Stosszeiten, macht das ganze relativ unattraktiv. Kommt dann noch der Verschleiss des eigenen Rades hinzu, wird es wirklich sehr unattraktiv.
Lieferando stellt zumindest einem Teil der Bestandsfahrern Pedelecs für die Dienstzeit zur Verfügung und übernimmt auch die Wartung im Hub, einer Art Zentrale mit Warteraum – die zufällig nur wenige 100m von mir entfernt liegt.
Wolt hat bisher überhaupt nichts: Keinen Hub, keine Räder, keine Kooperationen mit Radhändlern oder Verleihern.
Lieferando hat drei Regionalgebiete: City, Pasing und Ost. Diese Gebiete sind sehr groß und es gibt kein Entfernungslimit. Bei Wolt gibt es nur eine relativ kleine City-Zone und ein Limit von 3km Luftlinie, was allerdings auch die ganze Altstadt und noch etwas mehr abdeckt.
Persönlich finde ich bei Wolt positiv, dass der variable Anteil zumindest ab 3 Bestellungen pro Stunde Arbeit und Schnelligkeit honoriert. In Schwachlastphasen – was durchaus zu Beginn der Fall sein dürfte – legt man als Fahrer drauf und muss sich für einen deutlich größeren Pensum (Arbeitszeit) verpflichten.
Die Vertrage bei Wolt sind auf 6 Monate, bei Lieferando auf 12 Monate befristet (wobei hier 6 Monate Probezeit gelten). Lieferando kassiert auch den gesamten letzen Monatsumsatz, wenn man den Vertrag nicht erfüllt. Auch sind Krankmeldungen binnen 24 Stunden digital einzuliefern, es gibt ein weitreichendes Konkurrenzverbot, das die gesamte Gastronomie, alle Liefertätigkeiten abdeckt und „alles was in Konkurrenz zu Lieferando“ steht. Ob das ganze vor einem Arbeitsgericht durchsetzbar ist, möchte ich nicht kommentieren.
Die Auszahlung des Lohnes erfolgt bei Lieferando zum 15. bei Wolt erst zum 20. des Folgemonats. Interessanterweise will Lieferando das bei Online-Bezahlung vom Kunden zugestandene Trinkgeld steuerfrei auszahlen, während es bei Wolt versteuert ausbezahlt wird. Bargeld darf vollständig behalten werden.
Beide Anbieter verpflichten die Mitarbeiter in Unternehmensklamotten und -Ausstattung aufzutreten und diese zu verwenden. Lieferando scheint die Mitarbeiter umfangreicher auszustatten u.a. mit Regenschutz, Sommer- und Winterjacken, Helmen. Bei Wolt scheint das momentan auf Jacken und Iso-Rucksäcke begrenzt zu sein.
Persönliches Fazit:
Betrachtet man die Saisonalität (Winter, Eis, Schnee, Kälte), das akute Pandemiegeschehen und die Pflicht selbst ein Fahrzeug einzusetzen, dann sind beide Angebote nicht attraktiv und höchsten für Menschen interessant, die überhaupt keine Qualifikationen und schlechte Sprachkenntnisse haben – oder wirklich nichts besseres finden können.
Mit einem romantischen Nebenjob, einem „paid workout“ oder gar Bike Messenger-Lifestyle haben die beiden Anbieter jedoch nichts zu tun. Es sind harte Knochenjobs.
Die Kuriere in Großbritannien oder den USA können sich dort parallel bei verschiedenen Anbietern einbuchen, sind frei darin, Aufträge abzulehnen. Durch einen Multiplikator und vollkommen flexible Arbeitszeiten, kann man durch geschickten Zeiteinsatz jeweils den „überlastetsten“ Anbieter wählen, der am meisten für die Lieferung bezahlt. Diese Arbeitsweise taugt natürlich nicht als Vollzeitjob und letztlich dürften auch in den beiden Ländern die Mehrheit der Fahrer „verlieren“ (Verdienst/Zeiteinsatz).
Deutsche Arbeits- und Sozialgesetze setzen einer selbständige Beschäftigung auch enge Grenzen. Um nicht Sozialversicherungsbeiträge nachzahlen zu müssen (oder ähnliches), verzichten die beiden Anbieter auf diese Art von Fahrern. Letztlich dürfte die fehlende Konkurrenz (Kein Uber Eats, kein Deliveroo, kein Postmates, kein Stuart, …) dazu beitragen, dass die Bezahlung insgesamt schlecht ist.
PS:
Ich finde es sehr schwach von beiden Anbietern keine Fahrräder (mehr) bereitzustellen und auch keinen Servicepunkt/Werkstatt zu haben, wo man innerhalb/vor/nach einer Schicht z.B. Reifen austauschen oder andere Reparaturen vornehmen kann. Im Übrigen gibt es mit dem MVG-Rad und mit Swapfiets zwei Verleihsysteme, die für Großkunden günstige Langzeitmieten anbieten. Hier hätten beide Unternehmen einen Deal aushandeln können, vielleicht auch mit der Witterung angepasster Bereifung. Es ist ziemlich schäbig, so viele Risiken auf eh schon schlecht bezahlte Arbeitnehmer abzuwälzen.
Es gibt alternativen allerdings fahren hier die Fahrradkuriere tatsächlich selbstständig und verdienen damit deutlich besser als bei den o.g. Pizzenlieferanten.
Hallo „Fahrradkurier“,
schwer zu sagen. Mir sind in München nur http://rapid.de/ und https://www.transpedal.de/ als Fahrradkurier-Unternehmen bekannt. Beide setzen meines Wissens auf selbständige Kurierfahrer, d.h. es gibt keine Versicherung, kein Mindestlohn und keine Sozialabgaben. Sollte diese Information nicht mehr stimmen, würde ich mich gerne über Links zu anderslautenden Hinweisen freuen, Lust aufs Rad zu steigen und ein paar Stunden pro Woche „für etwas Geld“ herumzufahren, hätte ich weiterhin 😉
Die von Dir vermutlich betriebene Plattform unabhängiger Kurierfahrer eignet sich meiner Erfahrung nach nicht dafür: Ohne Kundenstamm, Ausrüstung und Backoffice kann man nicht wirtschaftlich arbeiten. Und das schlimmste an deiner Radkurier-Plattform ist, dass man sich keinen eigenen Kundenstamm aufbauen kann, sondern sich von deiner Plattform 1. abhängig macht und 2. mit allen anderen aus einer Region in direkter Konkurrenz steht.
Viele Grüße
Roland
Hallo zusammen,
ich möchte euch gerne kurz auf Glocally aufmerksam machen. Wir sind ein Münchner Startup, das Pakete von Einzelhändlern per Lastenrad Same Day an lokale Kunden liefert.
In nächster Zeit stellen wir unsere ersten Kurierfahrer auf Minijob-Basis für 12€ pro Stunde (+Trinkgeld) ein. Schaut doch einfach mal auf https://www.glocally.de/ vorbei. Wir freuen uns über jede Bewerbung!
Liebe Grüße
Felix