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Brexit-Dilemma und Berichterstattung

Gleich vorab: Ich halte den Brexit für eine Schwachsinns-Idee, aber die Bürger Großbritanniens haben sich in einer demokratischen Abstimmung dafür ausgesprochen.

In den ersten Tagen nach der Brexit-Abstimmung war diverse emotionale Artikel in deutschen Medien sicherlich angemessen, schliesslich ist die Europäische Union ein monumentales Projekt unserer Zeit zur Friedenssicherung, das bisher relativ gut funktioniert hat. Doch mittlerweile muss man sich schon fragen, was die täglichen Shitposts auf Spiegel Online noch für einen Zweck erfüllen sollen:

Es wird z.B. abfällig über Theresa May geschrieben, man prophezeit den Weltuntergang der Insel und wird nicht Müde, damit alle Briten über einen Kamm zu scheren.

Was soll das? Theresa May macht ihren Job. Sie war nicht die Lobby-Aktivistin für den Brexit, sondern ist als gewählte Premierministerin ihrem Volk verpflichtet und das hat sich nun mal leider so entschieden. Wenn man für das ganze Schlamassel Schuldige ausmachen möchte, dann sind das vermutlich David Cameron und Nigel Farage – und auch einige EU-Vertreter, die nach Gutsherrenart gearbeitet haben.

May hat jedenfalls den dreckigsten und härtesten Polit-Job des Landes und eine Chance von vermutlich weniger als 1% dieses Jahr politisch zu überleben. Dazu braucht es keine abwertenden Photos ihrer Person.

Es ist jedenfalls sehr unwahrscheinlich, dass diese jammerhaft-herablassende Berichterstattung politisch bei uns oder in Großbritannien etwas bewirken wird oder bewirkt hat. Die Wahl ist gelaufen und ein erneutes Referendum so gut wie ausgeschlossen. Die Uhr tickt und am 29.03.2019 ist der Tag der Wahrheit.

Rational ist der Brexit natürlich auch für uns „Verbleibende“ ein großes Dilemma: Gibt die EU bei den Austrittsverhandlungen nach, macht sie sich angreifbar für weitere Ausstiegsdrohungen und Erpressungen aus allen Mitgliedsstaaten, in denen nationalistisch-populistische Parteien über Einfluss verfügen oder meinen, diesen kurzfristig für ein Referendum erlangen zu können.

Lässt man Großbritannien aber kompromisslos einen Hard Exit spüren, wird man eventuell über Generationen verbrannte Erde hinterlassen und auch eine, wie auch immer aussehende, Partnerschaft in Zukunft unwahrscheinlich machen lassen. Das Vereinigte Königreich ist zu wichtig, um daran ein Exempel zu statuieren.

Überhaupt sollte man auf Länderebene keine Exempel statuieren:

Der Ton der Berichterstattung von Spiegel Online hat etwas von U-Boot-Krieg und Propaganda aus der Zeit des ersten und zweiten Weltkrieges: Etwas schöner verpackte Worthülsen, nur eine Stufe entfernt von „Gott strafe England!“, „England denkt nur an sich selbst“, „In England wohnt ein Lügenlord“.

Das man sich ausgerechnet an der Ericusspitze in Hamburg, der Stadt mit den innigsten wirtschaftlich- und kulturellen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich auf so ein Niveau herablässt, ist schon ein Armutszeugnis und macht es den Menschen, die weiterhin an einem Europa-Projekt festhalten, nur noch schwerer. Auch wenn dahinter vermutlich eine ehrlich gemeinte, aber hilflose-belehrende „seht her, liebe Leser, so geht es Staaten, die auf Populisten reingefallen sind!“-Absicht stehen sollte.

Wie wäre es stattdessen den von EU-Feinden gesetzte Kampfbegriff „(Keine) Vereinigte Staaten von Europa“ zu bearbeiten? Spiegel Online würde dabei auch sehr viel über die „als Vorbild“ gemeinten USA lernen, wo Staaten und selbst Gemeinden über deutlich mehr Freiheiten verfügen, als in Deutschland oder der EU (siehe Cannabis-Legalisierung in US-Bundesstaaten, örtliche Regelungen für AI-Fahrzeuge oder E-Scooter, bürgerliche Freiheiten wie z.B. Verzicht auf Gurtpflicht, Tragen einer Waffe oder Verzicht auf Einkommenssteuer). Somit wäre ein „VSEU“-Modell eigentlich positiv, aber würde dann auch weit über unsere föderalen Freiheiten in Deutschland hinausgehen müssen.

Daraus muss man schlussfolgern, dass Spiegel Online für eine zentralistische, autoritäre Europa-Regierung in Brüssel einsteht und damit genau denen die Gründe liefert, die laufend mit Dreck gegen alles aus Brüssel oder Strasbourg werfen und keine Europäische Gemeinschaft wollen.

Danke, für nichts, SPON.

4 Kommentare

  1. garbeam garbeam

    Ich sehe die Sache viel entspannter als die meisten Medien. Wenn man einigen Insidern auf britischer Seite glaubt, dann ist die Strategie bisher ziemlich aufgegangen und am Ende wird die EU bei der Backstop-Regelung Kompromisse machen und einknicken. Das Zocken und theatralische Vorgeben auf britischer Seite wurde von den EU-seitigen Medien super hoch-ge-’spin’t, so dass das vermeintlich-keinen-Plan-zu-haben und voll auf den harten Brexit zu fahren, sich am Ende doch auszahlen wird. Die Orchestrierung und das Timing auf May’s Seite ist ziemlich genial und spielt den Briten voll in die Haende. Kaum einer hat die wahren Gruende fuer die Verschiebung der Deal-Abstimmung Richtung Ende Januar auf EU-Seite verstanden — alle sind darauf reingefallen 😉

    Meine Wette: die Briten werden in jedem Fall nach kleineren Hickups in 5-10 Jahren besser dastehen, als die meisten EU-Verantwortlichen und Medienvertreter sich das aktuell ausmalen…

    • Roland Roland

      Hey, lange nichts mehr gehört! Du bist nach Kanada ausgewandert? Sehr cool, bin neidisch 😉

      Mittelfristig dürfte GB besser dastehen, wenn der Brexit nicht zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen führt (Abschiebung von EU-Bürgern, Nordirland-Konflikt etc.).

  2. LZ LZ

    Betreibt SPON nicht nicht einfach gutes altes Clickbait? Das Polit-Äquivalent vom Dschungelcamp? Politik-Drama kommt gut an, jeder hat eine Meinung, weil man dafür relativ wenig wissen muss (im Grunde wiederkäut man nur was man irgendwo gelesen hat und was sich gut anfühlte), und evtl., tinfoil on, gibts auch irgendwo eine PR-Agenda, die irgendwelche Ansichten verbreitet. Aber glaube ich gar nicht.

    Ich lese so gut wie nix über Brexit aber als ungebildeter Mensch hat die May eher Vorbildcharakter und kann ruhig bewundert werden. Ich meine sie scheint stressresistent zu sein, macht einfach den Job für den sie gewählt wurde. Sie dient. Aber wie gesagt, ich weiss nix über Details.

    • Roland Roland

      Ja durchaus. Wo es bei allen privaten Medien in Deutschland wirtschaftlich ums Eingemachte geht, wird Clickbait bis zum Abwinken produziert. Als „Meinung“ wären diese Artikel allemal akzeptabel, als „Meldung“ bzw. „Bericht“ auf der #1 jedoch nicht. Und das triggert dann (gewollt oder ungewollt) die Gegner und sorgt für ein sich weiter zuspitzendes Klima, gegenseitigen Lügenpresse/Nazi-Vorwürfen.

      Springers Welt macht das „von der anderen Seite“ her und ist für mich, trotz wirtschaftsliberaler Grundhaltung, auch nicht mehr lesbar.

      Einem progressiven Artikel folgen dort 7 Tage reaktionärer Neocon-Bullshit. Irgendwann will man Broder und Don Alphonso auch nicht mehr lesen. Immer das selbe Schema. Sich über die Berliner Hartz4-Linken lustig zu machen, hat nach 10 Jahren auch nur noch was von einem „Behindertenwitz“.

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